BÜHNENSTÜCKE
DER BAHNHOF ROLANDSECK wird das Theater sein, in dem sich alle Künste vereinen, um das Wunderbare zu schaffen.[1](Marcel Marceau 1923-2007)
Dieser programmatische Satz aus Marcel Marceaus berühmten Manifest für Rolandseck aus
dem Jahre 1969, ist einer der Handlungsstränge einer großangelegten
Theaterinszenierung, die ihren Ausgangspunkt im spätklassizistischen
Bahnhofsgebäude nimmt und sich in den unterschiedlichen Gebäudeteilen
des Neubaus von Richard Meier fortsetzt. Der zweite Handlungsstrang ist die Bühne des Cabaret Voltaire, die Geburtshöhle der
Dadaisten in der Spiegelgasse 1 in Zürich im Jahre 1916.
Lediglich als
Spielpodest in den Zuschauerbereich vorgebaut, und als verkleinerter
Nachbau im Obergeschoss unseres Museums zu sehen, diente diese als eine
Art Proklamationsfläche, die dem Schauspieler einen puren
Handlungsspielraum eröffnete, der nur das Kostüm, das Licht und die
Musik berücksichtigte. Hier äußerte man sich provokativ,
unkonventionell, stellte sich dem traditionellen Kunstbegriff entgegen
und begann das Zeitalter der Performance einzuläuten.
Und hier beginnt sich ein feines Netzwerk zu entspinnen, das das Cabaret Voltaire und das Manifest Marcel Marceaus mit dem Appell, es mögen sich alle Künste vereinen, mit den Exponaten der Ausstellung Bühnenreif 1. Akt verknüpft: Es ist der Versuch, die Welt des Theaters mit seinen vielfältigen Ausprägungen und kreativen Bestandteilen im Zusammenspiel vorzuführen, und sich damit dem Bühnen- und Theatergeschehen als Gesamtkunstwerk anzunähern. Hier spielen beispielsweise die literarische Vorlage, die Choreografie, die expressive Ausdruckskraft und Stimmgewalt der Schauspieler, die Bewegungen der Tänzer, das Bühnenbild, die Kostüme, die Maske oder die Bühne selbst eine Rolle.
Der Anknüpfungspunkt ist das Bühnenbild zu Beginn des 20.
Jahrhunderts und dessen weitere Entwicklung bis hin zur Gegenwart, das
in den Grundzügen durch die jeweils herrschenden ästhetischen,
politischen, gesellschaftlichen, philosophischen Tendenzen und
Entwicklungen der Bildenden Kunst mitbestimmt wurde. Das Theater wurde
quasi zum Forum der bildenden Kunst - zu einem Katalysator eines äußerst
dynamischen Geschehens zu Beginn des letzten Jahrhunderts, das sich in
neuen Kunstströmungen verfestigte, von neuen Lebenshaltungen, utopischen
Ideen und Raumvorstellungen geprägt war.
So begrüßte beispielsweise der Futurismus den Fortschritt der Technik und die pulsierenden Städte mit Euphorie. Die abstrakte Kunst reagierte mit dem Rückzug aus der gegenständlichen Welt. Und hier wurde es für Theaterregisseure nahezu unabdinglich sich weniger von reinen Theaterarchitekten als Bühnenbildner unterstützten zu lassen, sondern gemeinsam mit bildenden Künstlern der klassischen Moderne - wie Picasso, Matisse, Léger, Derain, Delaunay, Tatlin, um nur wenige zu nennen - an einem theatralen Gesamtkunstwerk zu arbeiten. Diese Kollaborationen sind, wenn auch abgeschwächt, bis heute erhalten und lebendig geblieben und lassen Marcel Marceaus Traum zu Beginn dieses Textes wieder aufscheinen.
Zurück in 2016 startet nun derexemplarische Parcours, der
Theaterinszenierung im Arp Museum Bahnhof Rolandseck mit der
Audioinstallation Meier in 18 Szenen von Birgit Ramsauer
(S.XXX). Sie verwandelt in Eigenregie den gesamten architektonischen
Komplex des Arp Museums in einen großen Bühnenraum.
Gewissermaßen im Flanieren ist dieses szenische Stück für den Besucher individuell über Kopfhörer erfahrbar. Immer wieder wird man an prägnanten Meier- und sammlungsspezifischen Orten innerhalb des Gebäudes von Texten umfangen, die uns zum Zuhörer und zum Akteur werden lassen. Diese fantasievolle Entdeckungsreise, bei der wir die einzelnen Szenen selbst imaginieren, beginnt mit dem Rheinkahn, der das Arp Museum laut und donnernd erobert und uns sanft vor sich her schiebend immer weiter den Aktionsräumen der Theaterwelten näher bringt.
Auf dem Weg dorthin, vor der Aufzugpassage, bewegen wir uns auf Ulla von Brandenburgs schwarz-weiße Videoarbeit Shadowplay
(2012) zu (S.XXX). Angezogen und irritiert zugleich nehmen wir eine aus
der Ferne singende Frauenstimme wahr und erblicken drei Schauspieler,
zwei Männer und eine Frau, die mit Scherenschnitten ihrer selbst eine
Art Stück aufführen.
Lebensgroß und fast so, als würden sich tatsächlich Akteure in Kostümen des 19. Jahrhunderts hinter der Leinwand befinden, die sich um- und ankleiden, geraten wir in ein Trugbild einer Rückwandprojektion, die absurde Züge in sich trägt. Verstärkt wird dies durch die ätherischen Synthesizer-Akkorde und einen poetisch-melancholischen Text, der mit den Worten Verstehen und nicht verstanden sein, das ist hier gefragt beginnt und uns bis zum Ende dieser Vorführung einige Rätsel aufgibt.
Diese kleinen Verwirrspiele, Absurditäten und späterhin auch grotesken Anklänge, die beharrlich an der dadaistischen Ideenwelt festhalten und diese auch stellenweise weiterentwickeln, werden uns auf unserem Rundgang durch das Rolandsecker Theater immer wieder an verschiedenen Stellen begegnen.
Angekommen im großen Ausstellungsraum auf den Rheinhöhen betreten wir die Welt des Theaters: Bühnenmodelle, ein wandfüllendes Bühnenbild, Entwürfe für Bühnenbilder, einen Vorhang und Kostüme, wie auch tatsächlich realisierte Kostüme, Masken als Relikte vergangener Aufführungen und Performances sind zueinander in Beziehung gesetzt. Es werden Arbeiten expressiver Ausdruckskunst durch Mimik, Gestik, Tanz und Stimme in den Mittelpunkt gerückt, wie auch solche, die das Publikum und die Welt des Varietés und des Zirkus thematisieren. Natürlich dürfen dabei die realen Bühnen, die während der Ausstellung bespielt oder begangen werden sollen, und die Bühnenstruktur einer Bühne mit Vorder- und Hinterbühne wie auch ein Marionettentheater nicht fehlen. Zudem gilt es im Hinblick auf das theatralische Geschehen selbstverständlich auch die Rolle des Theaterregisseurs zu beleuchten und der möglichen Schnittstelle von Theater und Film nachzuspüren.
Bevor wir allerdings dieses Konglomerat an Bausteinen, das Theater
erfahrbar macht und immer erneut die Frage aufwirft, was Theater als
Inszenierungsraum in seiner Vielfältigkeit bedeutet, müssen wir zunächst
einmal an den Gatekeepern (S.XXX) der britischen Malerin und Performerin Marvin Gaye Chetwynd,
die sich immer wieder auch als Choreografin, Bühnen-, Kostüm- und
Maskenbildnerin ausweist, vorbei.
Humorvoll das herkömmliche Kostüm
parodierend und mit ihren wackeligen Stoßzähnen, insektenähnlichen Augen
aus gewölbten Plastikteilen, Köpfen aus Pappmaché und Latex sowie
Kostümen aus Stoff an groteske, unheimliche gotische Wasserspeier oder
an karnevaleske Kostüme erinnernd, sind sie es, die uns in die Welt des
Rolandsecker Theaters geleiten. Ursprünglich jedoch waren sie Teil einer
von Marvin Gaye Chetwynd 2011 aufgeführten Performance Odd Man Out und fungierten dort in Anlehnung an John Miltons Poem Paradise Lost (1667) als Torhüter zur Hölle.
Außerdem hatten sie die Aufgabe, die Besucher in das wahrlich labyrinthische Bühnengeschehen Marvin Gaye Chetwynds zu führen. Dieses für ihre künstlerische Arbeit so typisch komplexe Spektakel, bei dem Räume zur Bühne werden, und bei denen sie sowohl aus politischen, literarischen wie kunsthistorischen Themenkomplexen schöpft, ist in der Ausstellung als Video zu sehen, das Marvin Gaye Chetwynd eigens für das Arp Museum als Dokument zu ihrer damaligen Performance zusammengeschnitten hat.
Diese Welt des Bizarren, Anarchischen, des außer Rand und Band
Geratenen, der Hans Arp ebenfalls zugetan war, begegnet uns auch in Daniel Spoerris Bühnenbild zu Tristan Tzaras Stück Das Gasherz aus dem Jahre 1921, das unter der Regie Spoerris am 16.9.1972 im Düsseldorfer Schauspielhaus zu neuem Leben erweckt und dort aufgeführt wurde. Die Premiere von Tzaras dadaistischem Stück 1921 in Paris endete im Chaos, das interessanterweise von seinen Künstlerkollegen wie André Breton und Paul Eluard ausgelöst wurde und nicht vom Publikum.
Die Prämisse Tzaras Wir brauchen starke, gerade, genaue und auf ewig unverständliche Werke[2] war für Daniel Spoerri
Anlass genug, zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn als Solotänzer
und mit Theatralem daher bestens vertraut, dieses Stück in Szene zu
setzen. Er ist ein glühender Verehrer des dadaistischen Vokabulars, der écriture automatique wie des Absurden Theaters, die Sinnzusammenhänge ausschlossen und unbewusste Wahrnehmungsvorgänge ansprachen.
Und so wurde Tzaras kleines Kitsch-Liebesdrama, so Spoerri, zu einer ungewöhnlichen Inszenierung: Der Schauplatz ist offenbar ein Kopf, die Akteure sind das Ohr, der Mund, die Nase, das Auge, der Hals und die Braue. Zwischen den Protagonisten entsteht ein belangloser Dialog, der von Spoerri letztendlich in einer auf den Kopf gestellten Bühne inszeniert wird, in die nur noch die Häupter der Spieler ragen (S.XXX Verweis auf das Bühnenmodell und die Szenenfotos).
Um Sprache mit ungewöhnlichen Handlungsebenen geht es auch in dem Stück Zangesi aus dem Jahre 1922 von Velimir Chlebnikow(1885-1922),
einem der bedeutendsten Futuristen Russlands, der die russische
Dichtung im besonderen Maße beeinflusste, das am 11. Mai 1923 im Museum
für künstlerische Kultur in Petrograd uraufgeführt wurde. Hier trifft
ein abstraktes dramatisches Werk auf einen abstrakten Bühnenentwurf.
Beide Dialogpartner reagieren in annähernd symbiotischer Art und Weise aufeinander. Der russische Maler und Architekt Vladimir Tatlin (1885-1953) schuf dafür das Bühnenbild und die Kostüme, führte Regie und trat in der Hauptrolle des Sehers Zangesi auf. Zangesi ist kein Theaterstück oder eine Erzählung im herkömmlichen Sinne, sondern eine Lautmalerei in Gedichtform, die von dem futuristischen Propheten Zangesi vorgetragen wird: Er spricht in der Sternensprache, in den Formeln der Weltallsprache und der Algebra.[3] Das einzige dahingehend erhaltene Bühnenmodell ist in der Ausstellung zu sehen. Es steht exemplarisch für Tatlins abstrakte Assemblagen aus technischen Materialien wie Draht, Blech oder Holz, die er bemalte und auf die Bühnengestaltung übertrug. Die überwiegend aus flächigen Elementen bestehenden Bühnenteile gewinnen an Räumlichkeit, indem Tatlin diese konkav oder konvex krümmt und so in hohle Raumkörper verwandelt (S.XXX).
Dieser abstrakte, rhythmisch-geometrische und utopische
Gestaltungswille, der die Fläche, die Linie, die Farbe, die
verschiedenen Raumebenen und die Bedeutung des Lichts neu definiert,
bestimmt zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Formenvokabular der
abstrakt-konstruktivistischen Avantgarde, zu der insbesondere Sophie Taeuber-Arp
zählt.
Dieser neuartige künstlerische Ansatz hat einen maßgeblichen
Einfluss auf die in dieser Zeit entstanden Bühnenbilder sowie Bühnen-
und Kostümentwürfe. Dabei spielt die Stereometrie - die Beschäftigung
mit geometrischen Gebilden im dreidimensionalen Raum bis hin zur
Raumbühne - eine große Rolle. In diesem Zusammenhang und im Umgang mit
der Bühne - dem Bühnenraum - verändert sich auch die Rolle und das
Bewegungsschema der Akteure, die nun in Beziehung zum Raum gesetzt
werden. Deren individuelle und affektive Körpersprache wird durch die
Umbildung des menschlichen Körpers mit Hilfe des Kostüms und der Maske
neu definiert. Es entstehen Kunstfiguren, die den Gesetzen der Mechanik
folgen.
Einer der bedeutenden Vertreter dieser revolutionären Denkart ist Oskar Schlemmer (1888-1943), der mit seinem Triadischen Ballett, das 1922 in Stuttgart uraufgeführt wurde, den Bühnenraum als architektonisches Gebilde neu definierte und die Tänzer dazu in Beziehung setzte. In der Rolandsecker Ausstellung werden in diesem Zusammenhang auch Arbeiten von Andor Weininger (1899-1986) gezeigt. Weininger, der zu den Bauhaus-Künstlern in Dessau gehörte, arbeitete dort insbesondere in der von Oskar Schlemmer geleiteten Bühnen-Werkstatt. 1927 entstanden seine wichtigsten Arbeiten auf dem Gebiet des Theaters. Es sind die Entwürfe zur Mechanischen Bühnen-Revue, die auf seine Ideen von 1923 zurückgehen (S.XXX).
Ganz gegenwärtig ist Nadja Schöllhammers wandfüllendes und raumgreifendes begehbares Bild Polyphonos, das sie für Bühnenreif 1. Akt
realisiert hat. Ihre wuchernden Liniengespinste aus Papier mit
eingewobenen Figurationen aus Silikon und Heißkleber, die als Akteure
auszumachen sind und immer wieder an unterschiedlichen Positionen auf-
und abtauchen, suggerieren ein Bühnengeschehen von besonderer Art.
Die Protagonisten werden förmlich von dem Bühnenbild verschlungen - harren dort frei schwingend und in Beziehung zueinander aus - an einem Ort der auch Raum für Innenwelten und unterschiedliche Bewusstseinsströme ist. Bestimmt wird die Arbeit durch ein spannungsvolles wechselseitiges Durchdringen von gestischen, narrativen Strängen und abstrakten Formen, die zu einem labyrinthischen Zeichensystem miteinander verschmelzen (S.XXX).
Losgelöst aus jeglichem bühnenbildnerischen Kontext zeigen sich uns sieben zum Teil starkfarbige Kostüme, die Markus Lüpertz, neben dem Bühnenbild, 1976 zu Wolfgang Rihms Oper Faust und Yorick (Kammeroper Nr. 1) für Stimmen und Orchester realisiert hat. Die Oper rankt um Jean Tardieus absurde Tragikomödie, die Assoziationen zu Goethes Faust und Shakespeares Hamlet völlig zeitlos miteinander verbindet. Als Relikte dieser Aufführung, die die Sänger und Sängerinnen als Kostüme vor sich her trugen, weisen sie uns den Weg in die belebte Welt des Theaters (S.XXX).
Dort gleich zu Beginn finden sich die Arbeiten von Torsten Jurell, Arnulf Rainer und Bill Viola zu einer Art Ménage-à-trois ein: Torsten Jurells
Kopf- und Brustbildnisse aus Keramik (S.XXX), die potenziell auch als
Marionettenköpfe mit Armbefestigungen zu verwenden wären, nennt er
schlicht Performer (actors) 1-21 (2015) (S.XXX). Jeder
dieser gleichgroßen Akteure, farbig und in der Oberflächenstruktur ganz
unterschiedlich gestaltet, manches Mal an Masken erinnernd, führen uns
eindrücklich einundzwanzig detailreich abgestimmte mimische
Ausdrucksvarianten vor.
Arnulf Rainers sechs übermalte und
überzeichnete fotografische Porträts verstorbener und lebender
Theaterlegenden, die aus seinem Zyklus von insgesamt zweiundzwanzig
Arbeiten aus den Jahren 1997 und 1998 stammen, überraschen und
beeindrucken durch ihre Unmittelbarkeit und Expressivität (S.XXX). Rainer beschreibt diese Arbeiten als eine Hommage an die Theaterkünstler.
Mit seinem unverwechselbaren Stil und seiner Bearbeitungstechnik rückt
er dem schauspielerischen Kern der jeweiligen Person in einer Art traumatischem, euphorisch-halluzinativem Zustand zu Leibe[4], so Arnulf Rainer.
Für ihn ist Schauspiel grundsätzlich ein Ausdruck von Leben: Gestikulation, Körpermotorik oder die Kinetik des Gesichts, das ist für mich kein Spiel, auch kein Ritual, sondern Selbstsinn, grundlegendste Kommunikationsform der Menschen.[5] Bill Violas Videoarbeiten Six Heads (2000) und The Quintet of the Silent (2000)setzen der Dynamik Arnulf Rainers Übermalungen eine förmlich meditative Ruhe entgegen. Kaum wahrnehmbare mimische und gestische Bewegungen, die in einem subtilen Kommunikationsfluss und in einem Beziehungsgeflecht zueinander stehen oder in der Selbsterforschung variationsreicher Ausdrucksmöglichkeiten versunken sind, ermöglichen ein Innehalten und dehnen unsere Wahrnehmungsbereitschaft aus (S.XXX).
Leiko Ikemuraentwickelte anlässlich der Ausstellung für zwei ihrer Keramiken, Gigi (2008) und Oba (2007), die Tänzerinnen darstellen, eine Rauminszenierung no-no-no: dance of wind
(2016), die dem Thema der Bewegung auf eine ganz subtile Art nachspürt
und dabei das Innen und Außen miteinbezieht. Der jeweilige natürliche
Lichteinfall als Zufallsgenerator für etwaige Schattenspiele gerät
ebenso in ihr choreografisches Blickfeld. Inspiriert durch die
japanische Nō-Bühne überlässt sie uns ein Podest mit zwei transparenten
Vorhängen gleich einem Eingangsportal, um - auf Augenhöhe - ein Teil des
Bühnengeschehens zu werden.
Langsam drehen sich auf ungleich hohen Sockeln die kokett wirkenden Tänzerinnen um sich selbst (S.XXX).Diese Drehbewegung, jedoch schwungvoller und dynamischer, ja annähernd ekstatisch, wird in dem Tanz von Jean Börlin (1893-1930) als Derwisch, der in einem Film aus dem Jahr 1923 zu sehen ist, weiter fortgeführt. Während des Bestehens der in Paris gegründeten Ballett-Truppe Ballet suédois (1920-1925) war er dort erster Solist und Choreograf. Börlin arbeite bei seinen Inszenierungen mit bedeutenden bildenden Künstlern u. a. mit Francis Picabia für das Stück Relȃche (1924) und mit Fernand Léger für die Stücke Skating Rink (1922) und La Création du Monde (1923) als Bühnen- und Kostümbildner zusammen (S.XXX).
Das Theater braucht das Publikum - und so mischt sich in den Bühnenraum des Arp Museums das Gemälde Theaterszene mit Geisterzuschauern (2002) des Malers Thomas Huber. Die vermeintliche Zuschauerschar scheint dem Formenvokabular Hans Arps entsprungen zu sein. Gebannt blicken sie auf eine Szenerie, die surrealistisch anmutet, und wir werden zu Komplizen bei der Erkundung des verschlüsselten Bildes, das mit seinen unterschiedlichen Bühnenräumen auch immer wieder unsere Augen täuscht (S.XXX).
Täuschung und das Spiel mit dem Verborgenen ist eines der großen theatralen Themen, das mit Beginn der Commedia dell'arte
und ihren Ausdrucks-Archetypen eine komisch-burlesk-groteske Variante
erfährt und bis heute lebendig geblieben ist. Dabei spielt die
Verwandlung durch das Kostüm und die Maske eine übergeordnete Rolle, die
auch die Grenzbereiche des Theaters wie Clownerie, Karneval und Varieté
beeinflusst.
Exemplarisch dafür stehen die bisweilen bizarren Arbeiten
von Ryan Mosley, If the sky could talk (2015) (S.XXX), und Marcel Dzama, Age of discord (2010) / The love sick queen (2010) / Let Mischance be a slave to patience (2010). Besonders hervorgehoben sei das fantastische Theatergeschehen in den bühnenartigen Schaukästen - den Dioramen - Dzamas
(S.XXX). Hier ist der Tummelplatz verschiedener Simultanbühnen aus
Podesten und Treppen, die in ihrer Ausgestaltung an surrealistische
Bühnen erinnern und die es erlauben, Akrobaten, Tänzerinnen und Tänzer,
hybride Lebewesen und merkwürdige Fabelwesen samt der
brutal-gewalttätigen Bilder gleichzeitig in Szene zu setzen.
Selbstredend sind Dzamas Reminiszenzen an kunsthistorische Strömungen wie den Surrealismus oder die Neue Sachlichkeit. Mit seinem Stummfilm Une danse des buffons (or A jester's dance), 2013, entführt er uns in eine Zwischenwelt, die zwischen Bühnen- und Filmgeschehen oszilliert und welche die ganze Klaviatur seiner fantastischen Bild- und Bühnenszenarien vereint (S.XXX).
Ganz und gar real ist Isa Melsheimers strahlend weiße Bühne Unauffällig eingedrungenes Kontinuum (2016), die mit einem feinen schwarzen grafischen Liniengefüge versehen ist und die sie eigens für Bühnenreif 1. Akt
realisiert hat. Der zweiteilige Vorhang entspricht dem Dekor der Bühne.
Lediglich an einem Rand des größeren Vorhangteils - auf der gesamten
Länge von oben nach unten verlaufend - erblickt man ein feines Rinnsal,
bestehend aus winzigen Perlen, die in vielen grünen bis hin zu
gräulichen Farbnuancen schimmern und zum Grün außerhalb des Museums und
zu den Pflanzen auf der Bühne ein zartes Band knüpfen.
Isa Melsheimers Bühne ist zum einen eine autonome künstlerische Arbeit, die aber zum anderen während der Ausstellung tatsächlich als Bühnenraum / Aktionsraum genutzt wird. Isa Melsheimer verwendet häufig das Formenvokabular moderner Architektur und reagiert auf die architektonischen Gegebenheiten vor Ort. So geschehen auch in Rolandseck. Als Grundlage ihrer Raumbühne dienen ihr der Grundriss und die Rasterung der Außenhaut des Museumsgebäudes von Richard Meier. Die Bühne ist frei im Raum platziert und somit von allen Seiten einsehbar und bespielbar (S.XXX).
Bevor nun unser Rundgang, der mit der Architektur Meiers als installatives Hörstück begonnen hat und mit seiner Formensprache hier endet, möchte ich noch Claus Richter mit seiner In-situ-Arbeit Stage, Backstage, Stage-Door (2016) (S.XXX)zu Wort kommen lassen, die eine so wunderbar formale Verbindung mit dem Meier'schen Fenstermaß eingeht, indem sie es aufgreift. Zudem rückt er das Theater - seine Bühne, die Rückzug, Vorbereitung und das sich Zeigen ermöglicht - in die Nähe des alltäglichen Bühnengeschehens, bei dem wir immer wieder aufs Neue aufgefordert werden, unterschiedliche Rollen zu spielen und damit die Grenze zwischen Theater und Leben fließend zu erleben: Bewusst und unbewusst einverleibte Rollen, unzählige Drehbücher, unendlich viele Leben, die das Geschehen ständig in ihren vermeintlichen Lebensfilm einordnen, um nicht auseinander zu fallen. Architektur als Kulisse, Mode als Kostüm und das Selbst als Rolle ... The show must go on![6]
Jutta Mattern
[1]J. Mattern, "Ein Bahnhof macht Geschichte", in: Arp Museum Bahnhof Rolandseck - Ein Museum und seine Geschichte, Hg. K. Gallwitz, Remagen 2008, S. 48.
[2]"Theater Schlaue Braue", in: Der Spiegel, 38/1972, 11.09.1972.
[3]Aus: KUNSTRADIO, 17.3.1988.
[4]G. Köhler, Arnulf Rainer - Mimen in Wahn, Köln 2000, S. 27.
[5]Ebda., S. 23.
[6]Siehe hierzu Claus Richter, S. XXX.